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Ein Haus des spielerischen Lernens

© Raphael Kanfer
© Raphael Kanfer

Bildungscampus Berresgasse, Wien / PSLA Architekten

von: Roland Kanfer

Hirschstetten ist Teil der Donaustadt, des größten der „Flächenbezirke“ Wiens mit rund 190.000 Einwohnern und einem riesigen Stadtentwicklungspotenzial. In einer Gegend, deren Straßen so bezeichnende Namen tragen wie „Spargelfeldstraße“, „Arnikaweg“ oder „Eidechsen­gasse“, werden auf den grünen Wiesen Wohnbauten für Tausende Menschen geplant und errichtet. So auch in der Berresgasse beim Hirschstettner Badeteich, wo Ende vergangenen Jahres Bauträgerwettbewerbe für 3000 Wohnungen auf einer Fläche von 170.000 Quadratmetern abgeschlossen wurden (siehe Ausgabe 1/2019).

Bildungsbereiche statt Schulklassen
So viele neue Familien brauchen natürlich auch entsprechende Bildungseinrichtungen. Dort, wo neue Wohnbauten entstehen, muss Wien also, um der wachsenden Bevölkerungs- und damit Kinderzahl gerecht zu werden, auch Schulen bauen – rund 100 zusätzliche Klassen pro Jahr will Wien im ganzen Stadtgebiet zur Verfügung stellen. Die Stadt Wien setzt dabei seit dem Jahr 2009 auf das Konzept eines Schulcampus, bei dem Kindergärten, Schulen und Freizeiteinrichtungen an einem zentralen Standort vernetzt sind. Die Kinder und Jugendlichen werden ganztags betreut, Unterricht und Freizeit werden verschränkt. In Wien stehen fünf solcher Campusse: am ehemaligen Nordbahnhofgelände, am Laaer Berg, im Sonnwendviertel, in Floridsdorf und in der Seestadt Aspern. Mit dem im Herbst 2017 eröffneten Campus Attemsgasse in Wien-Donaustadt ging das erste Gebäude nach dem sogenannten „Campus-plus“-Modell in Betrieb. Dabei werden jeweils vier Schulklassen, zwei Kindergartengruppen und ein Sonderbildungsraum in einem Stockwerk zu einem Bildungsbereich zusammengefasst. Damit soll die traditionelle Zuordnung der Kinder auf Klassenräume aufgelöst und gruppen- und klassenübergreifende Zusammenarbeit ermöglicht werden.

Wettbewerb mit Kammerwarnung
Mit dem neuen Bildungscampus in der Berresgasse, der im September in Betrieb geht, wurde der zweite Standort nach diesem Konzept realisiert. Damit wird für Hirschstetten im Einzugsbereich der geplanten Wohnbauten Platz für rund 1000 Kinder geschaffen. Bereits 2015 hatte die Stadt Wien den Architekturwettbewerb für einen zwölfgruppigen Kindergarten, eine 17-klassige Volksschule und eine zwölfklassige Mittelschule ausgeschrieben, die alle unter einem Dach beheimatet sein sollten. Vergeben wurde das Projekt im Public-­Private-Partnership-Modell (PPP ist ein Modell der Zusammenarbeit zwischen der öffentlichen Hand und ­einem privaten Bauunternehmen, das die gesamte Um­setzung übernimmt, während die Architekten meist bis zur Einreichung und Detailplanung beauftragt werden). 84 Architekturbüros hatten am Wettbewerb teilgenommen – und das, obwohl sich die Wiener Architektenkammer dazu veranlasst sah, ihre Mitglieder vor einer Teilnahme zu warnen, weil dieses Modell, das international durchaus üblich ist, ihrer Ansicht nach zu Qualitäts­verlust und fehlender Qualitätskontrolle führt. Als Sieger ­unter den vorwiegend aus Wien, aber auch aus Restösterreich sowie Ländern wie Deutschland und Portugal stammenden Teilnehmern wurde das Wiener Architekturbüro PSLA gekürt. Das von Lilli Pschill und Ali Seghatoleslami 2013 gegründete, aus einer Partnerschaft mit PPAG ­architects hervorgegangene Büro liebt Wettbewerbe und sieht diese als eine Art Hochleistungssport an, bei dem man, wie in jedem Sport, auch das Verlieren lieben lernen müsse.

Höchst komplexes Konstrukt
Beim von PSLA entworfenen Campus handelt es sich um kein einfach ablesbares Gebäude, sondern um ein höchst komplexes Konstrukt. Das Grundlayout ist mehrfach geknickt, das Gebäude liegt überdies dia­gonal im Grundstück, wodurch drei unterschiedliche, nichtorthogonale Außenbereiche entstehen, die das Grundstück gliedern: Die asphaltierte, von Grüninseln durchbrochene Haupteingangszone im Westen liegt an der quer zur Berresgasse neu angelegten Verbindungsstraße zur Grete-Zimmer-Gasse. Östlich ist ein keil­förmiger, teilweise begrünter, möblierter und mit Spiel- und Sportgeräten ausgestatteter Bereich entstanden. Über eine Freitreppe und Terrassen ist diese Zone mit jedem Geschoß verbunden.

Im Süden, an der Berresgasse, liegen eine Turnhalle und Sportplätze. Diese Turnhalle war von der Wett­bewerbsjury als Einschränkung der sonst stadträumlich und organisatorisch hochqualitativen, überzeugenden Gesamtorganisation des Gebäudes kritisiert worden. Im Unterschied zur diagonalen Orientierung des Hauptgebäudes stellt die Turnhalle einen formal eigen­ständigen Anbau dar, der sich nicht an der Gebäude­achse ausrichtet und der freien Sicht von der Berresgasse auf den Campus teilweise im Weg steht.

Fassadensprünge und Terrassen
Das aus zwei rechteckigen, orthogonal angeordneten Volumina bestehende Sockelgeschoß beherbergt den Ess- und Spielbereich, den Kindergarten und die basalen Förderklassen für behinderte und pflegebedürftige Kinder. Weiters gibt es einen Mehrzweckraum, in dem sich auch Garderoben und Sanitärräume befinden. Die drei Obergeschoße sind dem Campus-­plus-Konzept entsprechend so angeordnet, dass mehrere pavillonartige Bildungsbereiche entstehen, mit jeweils radial um eine zentrale Multifunktionsfläche angelegten Räumen. Diese Klassenzimmer sind alle übereck angeordnet. Dadurch werden die sternförmigen Bildungsbereiche von allen Richtungen mit Tageslicht versorgt.

Im ersten und zweiten Obergeschoß sind vier dieser Bereiche zweigeschoßig ausgebildet und über einen zentralen Luftraum miteinander verbunden, wobei raumhohe Gittergeflechte im zweiten Ober­geschoß vor Abstürzen schützen, gleichzeitig aber Blickverbindungen zwischen den Geschoßen ermöglichen. Die beiden Bildungsbereiche für die Mittelschule befinden sich im dritten Obergeschoß und besitzen jeweils eine Terrasse, die über Freitreppen mit den anderen Geschoßen verbunden sind. Diese starke funktionale Gliederung im Inneren ist von außen ablesbar und sorgt für eine äußerst differenzierte, plastische Ausformung des Baukörpers. Durch die sternförmig ausgebildeten Bereiche entstehen in jedem Geschoß Fassaden- und Höhensprünge sowie Terrassen. Zusätzlich machen die in unterschiedlichen Höhen angeordneten Fenster mit automatisch gesteuerten außen liegenden Jalousien sowie die abwechselnd horizontal und vertikal an den Fassaden verlegten, unbehandelten Lärchenholzbretter den Bildungs­campus zu einem abwechslungsreichen, spannenden und damit kinder- und jugendgerechten Haus des spielerischen Lernens.

Projekt
Bildungscampus Berresgasse, Berresgasse 31, 1220 Wien

Bauherren
MA 56 – Wiener Schulen, Mollardgasse 87, 1060 Wien, MA 10 – Wiener Kindergärten, Thomas-Klestil-Platz 11, 1030 Wien

Architektur
PSLA Architekten ZT GmbH, Wien
psla.at

Landschaftsplanung
EGKK Landschaftsarchitektur, M. Enzinger | C. Kolar GBR, Wien
egkk.at

Statik
FCP Fritsch, Chiari & Partner ZT GmbH, Wien

Fotos
Raphael Kanfer

Projektdaten
Grundstücksfläche: 19.069,74 m2
Bebaute Fläche: 7189 m2
Nutzfläche: 16.783,16 m2
Bruttogeschoßfläche: 19.280,58 m2

Projektablauf
Wettbewerb 11/2015
Planungsbeginn 12/2015
Baubeginn 10/2017
Fertigstellung 08/2019

Konstruktion
Außen- und Innenwände: Stahlbeton

Fassade
Großteils hinterlüftete unbehandelte Lärchenholzfassade Sockelbereich: ca. 1000 m2 Glasfaserbetonplatten Rieder concrete skin, Farbe Ivory, Oberfläche matt

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