Webervögel sind exzellente Baumeister: Dass das Wohnen kein distinktives Merkmal menschlicher Kultur ist, wird beim Anblick des perfekt gebauten Nests sofort klar. Mit faszinierender Präzision und detailreicher Kenntnis statischer Zusammenhänge wird da ein Zuhause geschaffen, das genau in die Gegebenheiten der Umgebung passt. Vorbildlich sozusagen. Und Vorbild waren sicherlich die zahlreichen konstruierten Behausungen verschiedenster Tiere auch bei der Entwicklung des Wohnbaus. So mutmaßt der römische Architekturhistoriker Vitruv in den ältesten bekannten Aufzeichnungen zum Thema, dass es im Zuge des Zusammenschlusses mehrerer Menschen in Gruppen zu unterschiedlichen Entwicklungen kam: „Da begannen in dieser Gemeinschaft die einen Dächer aus Laub zu bauen, andere, am Fuß der Berge, Höhlen zu graben, einige stellten – die Nester der Schwalben und ihre Konstruktionen imitierend – Örtlichkeiten aus Lehm und Reisig her, in denen sie Unterschlupf fanden.“ („Zehn Bücher über Architektur“, 2. Buch, 1. Kapitel: Vom Ursprung der Gebäude)
Interdisziplinär und kokreativ
Bis heute – und in Zukunft noch verstärkt – spielt der Schutz vor dem Klima eine entscheidende Rolle. Bereits in der Steinzeit wohnen Menschen nicht direkt im Freien. Das Wohnen hat neben Fragen des Komforts existenzielle Bedeutung, gerade wenn das Klima rau ist oder die nächtlichen Raubtiere zahlreich sind oder beides gleichzeitig.
Die Frage, wie dieser Ort genau aussehen soll, lässt sich sehr vielfältig beantworten. Sobald arbeitsteilige Strukturen Gesellschaften zu durchdringen beginnen, kann eine Spezifizierung der Baukunst angenommen werden – nicht mehr jede Familie oder Gruppe baut ihr eigenes Domizil. Es werden Spezialisten für diese Aufgabe ernannt, die in der Folge hohe Kunstfertigkeit erlangen. Schon bei Vitruv wird vom Architekten außer handwerklichem Können (Fabrica) und konzeptionellem Arbeiten umfangreiches Wissen über Kultur gefordert – so hilft etwa die Kenntnis von Musik dem Harmonieempfinden und dem Gefühl für Proportionen. Auch Kenntnisse in Gesetzeskunde und Geschichte, Philosophie und Gebräuche sind notwendig – eine interdisziplinäre Sicht der Architektur.
Vitruvs „Zehn Bücher“, verfasst zu Zeiten des Kaiser Augustus, gehören zu den viel diskutierten Schriften zur Architektur. Entgegen früheren Vorstellungen von einer marmorschimmernden, mit Ornamenten geschmückten Stadt befindet sich Vitruv in einer Großstadt der Mietskasernen und Slums. Ziegelbau überwiegt die teuren Marmorkonstruktionen, die Bauwirtschaft ist korrupt, das erstrebenswerte architektonische Können, das im Tempelbau steckt, liegt oft in den Händen griechischer Sklaven – wer es sich leisten kann, beschäftigt so einen Kulturbotschafter wider Willen. In dieser Zeit fasst Vitruv seine Überlegungen und Erkenntnisse in zehn Schriftrollen zusammen, die im Fortgang der Geschichte der Baukunst hohen Einfluss gewinnen. Im Prinzip nimmt die gesamte Architekturtheorie von Renaissance bis Klassizismus bei ihm Anleihen oder setzt sich mit seinen Schriften auseinander.