370 Naturstein
© Enrico Cano
© Enrico Cano

Natur, Stein und Architektur

Ob hoch am Berg, in der Hitze der Stadt oder im gepflegten VIP-Ambiente: Wenn Architekten mit Naturstein bauen, bringen sie damit Haptik und Emotion in die Gestaltung.

von: Roland Kanfer

Architektur lebt von Vielfalt. Ästhetische, optische, emotionale und haptische Qualitäten spielen bei der Wahrnehmung von Bauwerken zusammen. Nicht nur Gestalt und Aussehen spielen dabei also eine Rolle, auch die Beschaffenheit von Oberflächen, die wiederum beim Betrachter unterschiedliche Emotion auslösen, ist ein wesentlicher Bestandteil von Architektur. Ein Gebäude mit Ganzglasfassade wird anders rezipiert als eines aus Holz oder aus Stein. 

Naturstein hat als Baumaterial etwas Archaisches. Jahrtausende lang haben wir ihn verwendet, um uns mit einer schützenden Hülle zu umgeben. Wenn Architekten heute noch Naturstein einsetzen, schlagen sie damit also die Brücke in eine kollektive Vergangenheit der Menschheit. Mithilfe heutiger Bautechniken wiederum machen sie den Stein auch zu einem modernen, zukunftsweisenden Material.

Aus dem Berg auf den Berg

Wo kann diese Verbindung zwischen Natur, Stein und Architektur eindrücklicher realisiert werden als auf einem Berg, und wenn dann auch noch regional vorkommender Naturstein verwendet wird? Auf dem Monte Generoso, im Schweizer Kanton Tessin auf der Grenzlinie zu Italien, liegt auf 1704 Metern Höhe die ­„Fiore di pietra“ (Steinblume). 40 Minuten braucht man mit der Seilbahn vom Tal nach oben: Das vom Schweizer Architekten Mario Botta geplante und 2017 eröffnete Ausstellungsgebäude mit Restaurants und Konferenzraum ist ein ­monumentales, geometrisch präzises und symmetrisches Bauwerk, dessen wie Blütenblätter angeordnete Bauelemente eine Gruppe von fünfgeschoßigen Türmen entstehen lassen, unten mit einer leichten Auskragung, die sich nach oben hin wieder schließt.

Die eher geschlossen wirkenden Türme sind untereinander mit großzügig verglasten Flächen verbunden, die eine 360-­Grad-Panoramasicht zulassen – im Süden auf die Mailänder Poebene, im Norden auf den Luganersee und die Alpen. Das Tragwerk aus Stahlbeton ist mit regional gewonnenem, grauem Granit aus Lodrino in horizontalen Streifen verkleidet, die mit ihrer abwechselnd glatten und ungeglätteten Ausführung dem Baukörper Struktur verleihen und die typische Handschrift Mario Bottas tragen. Lodrino ist ein grauer, geschieferter Gneis mit fein verteilten hellen Glimmermineralen. Er wird in Steinbrüchen am Fuß des Westhangs der Valle Riviera und der südlichen Valle Leventina bei Lodrino im Schweizer Tessin abgebaut.  

Wochenendhaus mit Sandsteinfassade

Vom hohen Berg im Tessin zu einem etwas niedrigeren in der spanischen Provinz Alicante: In einem kleinen Dorf im Vall de Laguar, auf 500 Metern Seehöhe mit Blick auf das Mittelmeer gelegen, hat das spanische Architekturbüro Made ein Wochenendhaus mit nur 25 Quadratmetern Grundfläche und einem Schrägdach geplant, so wie es die örtlichen, landwirtschaftlich geprägten Bauvorschriften vorgaben. Im Erdgeschoß befindet sich das Wohnzimmer mit Küche und einem Schlafzimmer darüber. Der unterirdische Wasserspeicher wurde zu einem Untergeschoß mit Studio, Badezimmer und weiterem Schlafzimmer. 

Den 30 Zentimeter starken Stahlbetonaußenwänden vorgemauert ist eine Fassade aus regionalen, trocken verlegten Natursteinen, wie sie in der Gegend für die Stützmauern des terrassierten Geländes üblich sind. Es handelt sich um den „Tosca Piedra“, einen Kalktuffstein aus Jávea, nördlich von Alicante. Dieser po­röse und raue Sandstein, in dem Einschlüsse von Meeresfossilien zu finden sind, besitzt eine weiche und formbare Struktur sowie einen satten, honigfarbenen Ton. Damit fügt sich das kleine Wochenendhaus perfekt in die Umgebung der Region Alicante ein.

Schwarzer Granit am Times Square

Begeben wir uns nun vom zurückgezogenen Land­leben in die pulsierende Metropole New York, genauer auf den Times Square, mit rund 45 Millionen Besuchern jährlich die am häufigsten besuchte Destination innerhalb der USA. 364.000 Menschen benutzen die „Bowtie area“ zwischen siebter Avenue, 42. und 47. Straße und dem diagonal zum Straßenraster verlaufenden Broadway Platz täglich. Nachdem der Broadway bereits im Jahr 2009 für den Autoverkehr geschlossen wurde, ist seit 2016 auch der gesamte Platz, einst einer der überfülltesten Verkehrsknotenpunkte im Herzen von Manhattan mit extrem hohem Unfallrisiko, nun eine reine Fußgängerzone. Gestaltet wurde sie vom norwegischen Architekturbüro Snø­hetta. Die Sicherheit vor Anschlägen mit Kraftfahrzeugen spielte bei den Plänen ebenso eine Rolle wie die Luftverschmutzung. Snøhetta sorgten mit ihrem Design für eine aufgeräumte Fußgängerzone mit Pollern aus Edelstahl und einer Oberfläche aus vorgefertigten Betonplatten mit darin eingelassenen stählernen Punkten. 

Zehn Bänke aus schwarzem Granit mit je 15 Metern Länge spielen eine wesentliche Rolle bei der Platzgestaltung: Sie definieren die öffentliche Fläche, zonieren den Platz und ­leiten die Fußgängerströme. Durch die Bänke entstehen einerseits flüssigere Fußgängerströme, andererseits schaffen sie „verkehrsberuhigte“ Zonen, die Besucher zum Sitzen oder Stehenbleiben und Anlehnen animieren. 

Die Bänke erfüllen aber auch noch andere Funktionen: In ­ihnen verstecken sich Anschlüsse für Strom und Übertragungstechnologie, um aus dem Times Square eine Ver­anstaltungslocation machen zu können. Der schwarze Peri­bonka-­Granit, der einen bewussten Kontrast zum grauen Bodenbelag schafft, stammt aus einem Steinbruch in Ka­nada. Die Architekten setzen mit dem Naturstein ein Zeichen: Die Bänke sollten zeitlos sein und die Möglichkeit haben, mit der Zeit und der Witterung Patina anzusetzen. 

Italienischer Lebensstil für Fluggäste

Starke Emotionen mit makelloser Effizienz zu verbinden und Reisenden eine neue Art des Willkommens zu bieten war das Ziel des Mailänder Architekten Marco Piva, als er 2016 die „Casa Alitalia“ in den beiden italienischen Flughäfen Rom Fiumicino und Mailand Malpensa gestaltete. Dazu verwendete er Leder, Holz und viel Marmor, stellvertretend für die monumentalen Architekturen, die sich in verschiedenen Stadtteilen von Rom und Mailand finden lassen: Die VIP-­Lounge am Mailänder Flug­hafen ist mit Palissandro Classico, einem hellgrau-beige­farbenen, braun gewölkten Dolomitmarmor aus Italien, sowie mit dem Granit Angola Brown Antique aus­gestattet.